Es ist ein schönes Fleckchen Erde, an dem Herzogin Dorothea Sophie von Mecklenburg-Strelitz in der Mitte des 18. Jahrhunderts ihren Witwensitz bezog. Umgeben von mehreren Seen, gehört das einst von ihr bewohnte Barockschloss noch heute zu den beeindruckenden Baudenkmalen in der brandenburgischen Kleinstadt Fürstenberg/Havel. Und das Beste: Bald werden dort auch Nicht-Adlige residieren können. Denn nach langem Leerstand wird das Schloss derzeit saniert, sodass zukünftig 43 Wohnungen im Schloss und eine noch nicht genau bekannte Anzahl Neubau-Reihenhäuser im Schlosspark zur Verfügung stehen werden.
Als künftige Bewohner stellt sich die Projektentwicklerin, die Nürnberger Firma Terraplan, nicht zuletzt Menschen vor, die in Berlin arbeiten und in Fürstenberg, schon fast an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern, wohnen. Eine Stunde braucht der Regionalexpress von hier zum Berliner Hauptbahnhof – eine Fahrzeit, die noch vor wenigen Jahren als zu lang galt, um von Berlinern akzeptiert zu werden. Doch das hat sich geändert: Nicht nur Fürstenberg, sondern auch viele andere brandenburgische Kommunen erfreuen sich als Wohnort wachsender Beliebtheit.
Damit folgt die Region Berlin-Brandenburg einem bundesweiten Trend. „Unsere Analyse der Wanderungsstatistik zeigt auf, dass inzwischen tatsächlich mehr Menschen sich für ein Leben auf dem Land entscheiden als noch vor einem Jahrzehnt“, sagt Frederick Sixtus vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Sixtus spricht von einer „Trendwende“: Landgemeinden und Kleinstädte zählten jetzt „eindeutig zu den Wanderungsgewinnern“.
Das belegen Zahlen des Statistischen Landesamts Berlin-Brandenburg. Demnach verzeichnete das Land Brandenburg im Jahr 2021 deutlich mehr Zu- als Fortzüge. Besonders markant ist der Wanderungsgewinn gegenüber Berlin: 35.430 Berliner verlegten ihren Wohnsitz nach Brandenburg, während nur 16.951 Märker ihre Zelte in der Hauptstadt aufschlugen. Dabei wiesen sämtliche brandenburgischen Landkreise und kreisfreien Städte – also auch die weiter von Berlin entfernten – Wanderungsgewinne auf.
Für diesen Trend gibt es mehrere Gründe, wie Arnt von Bodelschwingh, Geschäftsführer des auf Stadtentwicklung spezialisierten Forschungsinstituts Regiokontext, feststellt. „Manche reagieren mit dem Umzug ins Umland auf den angespannten Wohnungsmarkt in Berlin“, sagt der Diplom-Volkswirt und spricht dabei von dem „Wir-finden-nichts-mehr-Effekt“. „Andere suchen im Umland die für sie passende Wohnform.“ Während die einen also der Not gehorchend in kleinere Städte mit günstigeren Wohnungen ausweichen, obwohl sie lieber in Berlin wohnen möchten, entscheiden sich die anderen ganz bewusst für das ruhigere Leben abseits der Metropole.
Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, auf den Christopher Weiß hinweist, der Vorstandsvorsitzende des Landesverbands Berlin-Brandenburg des Immobilienverbandes BFW: „Die Infrastruktur ist in Brandenburg besser als in Berlin.“ Das gelte besonders für die Schulen. „Familien“, stellt Weiß fest, „ziehen dorthin, wo die besten Schulen sind.“
Ein wichtiges Kriterium bei der Wohnortwahl ist neben der sozialen und gesundheitlichen Infrastruktur aber auch die Verkehrsanbindung, wie Arnt von Bodelschwingh betont. Die Ausdehnung erfolgt nach seinen Worten nicht gleichmäßig, sondern meist entlang der Verkehrsachsen. Deutlich im Vorteil sind also Gemeinden, die über einen Regionalbahn- oder gar S-Bahn-Anschluss verfügen. Das sei übrigens nichts Neues, erklärt von Bodelschwingh: „Umlandwanderung ist für eine Großstadt etwas ganz Normales.“
Neu ist hingegen, dass auch Städte der zweiten und dritten Reihe – also außerhalb des seit langem florierenden Speckgürtels – an Attraktivität gewinnen. Das hängt mit den Veränderungen der Arbeitswelt und der wachsenden Akzeptanz des Homeoffice zusammen. „Beschäftigte müssen nicht mehr jeden Tag nach Berlin pendeln, sondern können zwei oder drei Tage in der Woche im Homeoffice oder aber in dezentralen Coworking Spaces arbeiten, wie sie derzeit auch außerhalb Berlins entstehen“, erläutert Christopher Weiß vom BFW. Dass Arbeitgeber diesen Trend aufgreifen, zeigt das Beispiel der Betreibergesellschaft des Technologieparks Berlin-Adlershof: Sie plant in der im Spreewald gelegenen Kleinstadt Lübben, etwa 70 Kilometer südlich der Hauptstadt, ein großes Coworking-Angebot für Beschäftigte, die dann nicht mehr täglich nach Berlin pendeln müssen.
Ganz unproblematisch ist die neue Liebe zu Klein- und Mittelstädten jedoch nicht. Denn nicht wenige Alteingesessene befürchten, dass mit dem Zuzug der Berliner die Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt wächst und die Mieten steigen. Darauf reagiert die Politik, indem sie den Bau von Sozialwohnungen fördert. 150 Millionen Euro stellte das Land Brandenburg dafür im Jahr 2021 zur Verfügung. Allerdings verlangen nicht alle Kommunen bei Neubauprojekten einen Anteil an Sozialwohnungen. Denn in den weiter von Berlin entfernten Gemeinden sind die Mieten noch vergleichsweise günstig, wie Zahlen des Verbands Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) zeigen. Im Landkreis Oberhavel zum Beispiel, in dem Fürstenberg/Havel liegt, beträgt die durchschnittliche Kaltmiete bei den BBU-Mitgliedsunternehmen nur 5,47 Euro pro Quadratmeter.
Doch was bedeutet der Trend ins Umland eigentlich für Berlin? Droht der Hauptstadt jetzt ein Bevölkerungsverlust? Nein, antwortet Experte Arnt von Bodelschwingh: „Dass Berlin schrumpft, ist nicht zu erwarten. Denn die Stadt übt mit gutem Grund immer noch eine große Anziehungskraft auf Menschen aus dem Ausland aus.“
Beitrag von Christian Hunziker. Christian Hunziker ist freier Journalist in Berlin und auf Stadtentwicklungs- und Immobilienthemen spezialisiert.