INNOVATIONSTREIBER CORONA

Das Kalenderjahr 2020 könnte sich für das Coworking-Konzept als Initialzündung erweisen. Das mag ausgerechnet jetzt widersprüchlich klingen, da gerade die zweite Welle der Corona-Pandemie über Deutschland zieht und Abstandhalten als Gebot der Stunde das Geschäftsmodell des gemeinsamen Arbeitens konterkariert. Doch trotz der aktuell schwierigen Bedingungen gibt es Anlass zum Optimismus für die Anbieter von einzelnen Büro-Arbeitsplätzen für Jedermann.

Seit 2018 hat sich das Angebot in Deutschland vervierfacht. Rund 600 Anbieter gibt es bundesweit, die meisten davon in großen Städten, aber der Trend hat auch ländliche Regionen bereits erfasst. Der Bundesverband Coworking Spaces hat in den vergangenen Monaten zahlreiche Indizien gesammelt, dass sich der Aufwärtstrend, den die Branche bis zum Corona-Ausbruch im Frühjahr erlebt hatte, im kommenden Jahr fortsetzt. Beispielsweise registriert der Verband das Interesse einer wachsenden Zahl von Unternehmen, einzelne Teams für bestimmte Projekte in alternativen Räumlichkeiten zusammenzuführen, um den eigenen Standort personell zu entlasten.

Auch viele Arbeitnehmer, die im Laufe des Jahres ins Homeoffice verbannt worden sind, suchen nach Möglichkeiten, ihren Berufsalltag zumindest hin und wieder auszulagern. Und die Arbeitgeber sind durchaus bereit, die Kosten zu übernehmen. In Wolfenbüttel ergab eine Bedarfsermittlung des Verbandes im September, dass 90 Prozent der Arbeitnehmer ihren Angestellten einen Arbeitsplatz in einem Coworking-Space finanzieren würden. Dafür müssen sie sich nicht um die Infrastruktur des Büros kümmern und können bestenfalls Teile der eigenen Räumlichkeiten wieder freigeben, um Mietausgaben zu reduzieren. Wie das funktioniert, zeigt Microsoft in München. Hier stehen schon seit 2016 für 1900 Mitarbeiter nur 1100 Arbeitsplätze zur Verfügung, weil ein großer Teil der Belegschaft ohnehin nicht täglich im Büro erscheint.

"Corona erweist sich zunehmend als Innovationstreiber. Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben während der Krise begonnen, sich ernsthaft mit neuen Strategien zur Gestaltung des Arbeitsalltags zu befassen. Alle haben gelernt, dass die Arbeit auch abseits des Firmensitzes oder der Filiale effizient erledigt werden kann."

Verbandssprecher Tobias Kollewe

Bereits im Herbst sei dieser Trend spürbar geworden. Mit Beginn des Teil-Lockdowns in Deutschland im November sei die Auslastung der Coworking Spaces wieder deutlich angestiegen.

Eine Insolvenzwelle scheint damit vorerst vom Tisch. „Zweifellos sind die Erlöse der Anbieter in diesem Jahr insgesamt geschrumpft. Aber die Einbrüche sind nicht so drastisch, wie wir es befürchtet hatten“, sagt Kollewe. Die Branche profitierte auch davon, dass zahlreiche Bestandskunden ihre Verträge nicht kündigten, sondern bereit waren, das Ende der Beschränkungen auszusitzen.

Vorsicht ist geboten

Vorbei ist die Krise allerdings noch nicht. Insolvenzen sind auch im kommenden Jahr nicht ausgeschlossen. Solange die Ausbreitung des Coronavirus nicht unter Kontrolle ist, muss die Branche auf wichtige Einnahmen aus Vermietung von Räumlichkeiten für Konferenzen oder Workshops weitgehend verzichten. Wegen der Abstandsregelungen können die Anbieter zudem nur eine deutlich geringere Zahl an festen oder flexiblen Arbeitsplätzen vermieten. Der große Trumpf des sozialen Miteinanders und des Netzwerkens von Arbeitnehmern und Freiberuflern aus verschiedenen Sektoren der Wirtschaft verliert damit an Zugkraft. 

Bei Coconat, einem Anbieter von Coworking und Coliving in Bad Belzig in Brandenburg, wäre ohne staatliche Unterstützung durch Kurzarbeitergeld der Fortbestand des Unternehmens höchst fraglich gewesen. Mit nur 15 Prozent des Vorjahresumsatzes steuerte die Geschäftsführung durch das Krisenjahr. Dank der Verschlankung der Betriebskosten wäre Coconat jetzt aber sogar in der Lage, die Monate Januar bis März komplett zu schließen und dennoch seinen Verpflichtungen weiterhin nachzukommen. Doch spätestens im Frühjahr muss die Nachfrage wieder anspringen, um die Zukunft des Unternehmens retten zu können.

Der Optimismus bleibt

„Wir sind zuversichtlich, dass besonders im ländlichen Raum das Coworking noch attraktiver wird. Viele Arbeitnehmer haben in den vergangenen Monaten die Erfahrungen gemacht, dass es eine echte Alternative für sie ist, bei uns einige Tage zu verbringen, um hier zu wohnen und zu arbeiten“, sagt Coconat-Mitgründerin Julianne Becker. In Bad Belzig haben die Kunden nicht nur die Möglichkeit, in einer Gemeinschaft zu arbeiten, sondern auch auf dem Gelände für einige Zeit zu wohnen. Workation heißt der Trend, der sich aus den Begriffen Work (Arbeit) und Vacation (Ferien) zusammensetzt.

Auch Becker und ihre Partner haben während der Krise viel gelernt. Beispielsweise dass die laufenden Kosten trotz weniger Gästen nicht sinken, oder dass die Erwartungshaltung zahlender Kunden auch bei Lockangeboten nicht kleiner werden, und der Arbeitsaufwand deshalb nahezu der gleiche bleibt. Was profan klingen mag, bedeutete für die Unternehmer eine wertvolle Erfahrung. „Dieses Jahr hat viele Kleinigkeiten in unser Bewusstsein gerückt, die uns jetzt helfen, mutiger unser Angebot weiterzuentwickeln und Entscheidungen nicht vor uns herzuschieben“, sagt Becker.

Marcel Grzanna (marcelgrzanna.com) ist freier Autor. Sein Buch „Eine Gesellschaft in Unfreiheit“ erschien in diesem Jahr. 

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